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Fürsten auf Rädern - für drei Tage

Fast ein Jahr Tragzeit vom August 2019 bis Juli 2020 sind zwischen Idee und Reise vergangen. Zunächst verfolgten wir die Idee eines gemeinsamen Wochenendes im barrierefreien Gästehaus „Am Louisenpark“ in Erfurt mit Radtouren in und um die Domstadt. Damit alle Interessierten die Möglichkeiten der Teilhabe ausschöpfen können und niemand wegen körperlicher Einschränkungen ausgeschlossen werden muss, benötigten wir für dieses Projekt eine ausreichende Anzahl von Spezialrädern zur Ausleihe, einen technischen Support und Unterstützung durch unsere Reiseassistenten.

 

Im April diesen Jahres kam die erste große organisatorische Herausforderung: der Umbau im Gästehaus konnte coronabedingt nicht rechtzeitig fertiggestellt werden. Wir standen vor der Entscheidung, entweder alles abzusagen oder eine neue barrierefreie Unterkunft im Großraum Arnstadt (Thüringen) zu finden. Dort hatten wir den Spezialfahrradverleih für unsere auf den Rollstuhl angewiesenen Teilnehmer gebucht. Wir wurden fündig. Das mit dem „Goldenen Rollstuhl“ ausgezeichnete integrative Schlosshotel „Am Hainich“ war die passende Lokation für unser Wochenende.

 

Die Freizeitmöglichkeiten in der Umgebung klangen vielversprechend. Den Baumkronenpfad im Nationalpark Hainich kann man sogar mit Rollstühlen absolvieren. Die Krönung oberhalb der Wipfel war eine Stunde Yoga angeleitet von unserer Assistentin Clarissa. Eine Fahrt auf dem Werratalradweg von Mihla bis ins altehrwürdige Treffurt verband, dank kurzer Stadtführung, Sport und Kultur. Weil die Kulinarik nicht zu kurz kommen darf, belohnten wir uns im Eiskaffee mit köstlichen Kalorienbomben. Doch bevor wir all diese schönen Dinge vom 12.07. bis 15.07. genießen konnten, stand die Spannung und Anstrengung der Anreise.

Morgens um zehn am Bahnhof in Dresden fanden sich sieben Personen in gelben Westen, drei Rollstühle, zwei Therapieräder, ein Fahrrad und diverses Gepäck auf Bahnsteig Fünf ein. Ein Lügner, wer behauptet angesichts von sechs Stunden Gesamtfahrzeit und zwei Umstiegen kein mulmiges Gefühl zu haben. Gemeinsam bewältigten wir die Menge an Zeug, die wir brauchen und mitnehmen müssen, wenn wir nicht immer zu Hause hocken wollen. Und siehe da: Die Deutsche Bahn kann auch pünktlich. Am Zielort erwartete uns ein Escortdienst. Dank Auto mit Hänger für Rollis und Räder war die Erreichung des Hotels ein Leichtes. Es empfing uns eine großzügige Parkanlage, freundliches Personal und eine große Tafel mit Erfrischungsgetränken im Schlosshof. Wir sind Fürsten- ab jetzt und solange wir Urlaub machen. Die Technik forderte unsere Aufmerksamkeit, die Spezialräder mussten angepasst werden.

Das geplante Referat entfiel, Absage des Referenten aufgrund der Pandemiesituation, dennoch entwickelte sich ein toller Gesprächsabend über das Erlebte und die Erwartungen. Zweiter Fürstentag: Die Radtour war auf einen integrativen Charakter ausgerichtet, was konkret bedeutet, dass einige Teilnehmer aufgrund neurologischer Grunderkrankungen wie Schlaganfall, Multipler Sklerose oder Parkinson körperliche Beeinträchtigungen haben. Andere junge Patienten mit erworbenen Schädelhirnverletzungen Anderen bestens unterstützen. Die praktizierte Solidarität ermöglichte eine Win-Win Situation für die gesamte Gemeinschaft und eine aktive Freizeitgestaltung. Durch vertrauensbildende Aktivitäten während der Reise und der Radtouren entstand Raum und Zeit für die Teilnehmer sich vertrauensvoll auszutauschen. Bemerkenswert empfand ich die sehr offenen Gespräche, welche auch Sexualität und Behinderung nicht ausschlossen. Unter dem Motto „Lustlosigkeit vs. Lustgewinn in meinem Leben“, reflektierten wir das vorher/ nachher, den Status quo und unseren Blick auf die Zukunft. Therapiehund Freddy war jedermanns Liebling, seine Anwesenheit wurde von allen als wohltuend empfunden. Den nächsten Tag wollten wir deswegen mit Yoga im Park und Freddy-Zeit beginnen.

Am Abschluss des Abends wurde gemeinsam gesungen, was ich für einen besonderen Ausdruck von Lebensfreude halte und sehr genossen habe.

Dritter Fürstentag: Nach gutem Frühstück und der „Parkzeit“ Aufbruch zum herrlichen kühlen Werratalradweg. Vom erhabenen Gefühl oberhalb der Baumkronen und Banana Split und Co war schon an anderer Stelle die Rede.

In der Abendrunde erstellten wir eine Bierdeckelsammlung mit Notizen und Reiseeindrücken. Kurzauswertung: es besteht „die Gefahr“ einer Wiederholung. Vierter Tag, leider nicht besonders fürstlich: Wo bisher alles nach einem Reiseland für Menschen mit Handicap ausgesehen hat und eitel Sonnenschein zu herrschen schien, ziehen Wolken auf. Der Zugbegleiter empfängt uns mit den Worten „Euch nehme ich so nicht mit, in meinem Zug!“. Wie bitte?!?! Noch immer sieben Personen mit drei Rollstühlen, zwei Therapierädern, einem Fahrrad und einem Berg Gepäck verschaffen wir uns als Gruppe mit den gelben Westen energisch Zutritt. Passen doch alle rein!! Zusammen bewältigen wir den Widerstand besser als im Einzelkampf. Das war ein Aufreger und kein schöner Beweis der These, dass man eher behindert wird als behindert ist.

 

Wie jedes gute Märchen hat auch diese Geschichte von vielen Kurzzeitfürsten auf noch mehr Rädern ein happy end: erfüllt von schönen Erlebnissen, angereichert mit neuen Ideen und Impulsen für die Gestaltung des eigenen Lebens kehren wir gesund, munter und pünktlich nach Hause zurück. Unser

 

Dank gilt allen Helfern, Assistenten und Unterstützern! Fa. Brückner Arnstadt – Fahrräder, Assistenz Mobilitätsservice der Deutschen Bahn IKK classic Dresden- finanzielle Unterstützung – Projekthilfe Sie haben uns eine Depressionsprophylaxe der allerbesten Art ermöglicht.

 

Im Namen aller Teilnehmer*innen Colin Geipel

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